Andreas Reckwitz

Das Ende der Illusionen

Ausgabe: 2020 | 2
Das Ende der Illusionen

Die liberale Fortschrittserzählung spricht von Demokratisierung vieler Länder, der friedlichen Globalisierung, der postindustriellen Wissensökonomie, dem technischen Fortschritt und den erheblichen Liberalisierungs- und Emanzipationsgewinnen der letzten Jahrzehnte. „Die liberale Fortschrittserzählung ist nicht falsch. Aber trotzdem kann es sich nicht um die ganze Wahrheit handeln. […] Die Finanzkrise, der Brexit, die Terroranschläge, die Trump-Wahl und andere Ereignisse der jüngsten Vergangenheit verdeutlichen, dass die gesellschaftliche Realität widersprüchlicher und fragiler ist, als es uns das Fortschrittsnarrativ glauben machen will.“ (S. 11) Mehr noch, in unserer Kultur erlebt das Genre der Dystopien, negativen Zukunftsbildern, große Nachfrage. Nostalgie spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, egal auf welcher Seite des politischen Spektrums.

Das Denken an endlosen Fortschritt verliert an Glaubwürdigkeit, stellt sich angesichts sozialer und ökologischer Erfahrungen als Illusion heraus. Andreas Reckwitz, Professor für Soziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, hat für den Suhrkamp Verlag eine Reihe seiner Aufsätze zusammengestellt. Mit dem Band will er die Widersprüche der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung unter die Lupe nehmen. Er setzt bei dem von ihm entwickelten Konzept der „Gesellschaft der Singularitäten an“ und widmet sich einzelnen Aspekten der Entwicklung.

Für Reckwitz steht der Prozess der Singularisierung im Mittelpunkt. Es werden Besonderheiten und Einzigartigkeit, Unvergleichlichkeit Nichtaustauschbares und Superlative erwartet, fabriziert und positiv bewertet. Es bilden sich in gesellschaftlichen Kernbereichen allgemeine Strukturen und Praktiken aus, deren Interesse systematisch am Besonderen ausgerichtet sei. Das sei ein ambivalenter Prozess, in dem nicht mehr der Durchschnitt genügt, sondern von Dingen, Ereignissen, Orten und Kollektiven – aber auch von Menschen erwartet wird, dass sie den Durchschnitt hinter sich lassen. Erst dann habe man Chance auf Befriedigung, Prestige und wird aus der Sicht anderer „wertvoll“. Wer aber nicht singulär sein kann, will oder darf, wird abgewertet. Damit erleben wir, nach Reckwitz, eine Doppelstruktur von Singularisierung und Polarisierung zwischen denen, die von dieser Entwicklung profitieren und jenen, die weniger gelten.

In der Wirtschaft entwickelt sich ein kognitiv-kultureller Kapitalismus, der komplexe Güter kulturell auflädt, um die Forderung nach dem Besonderen zu bedienen. Einfache Dienstleistungen verlieren an Anerkennung. Im Bildungssystem verlieren mittlere Abschlüsse an Wert, bei Lebensformen wird das Besondere erwartet. In der digitalen Welt wird um Aufmerksamkeit gekämpft, räumlich boomen die Metropolen mit einer großen Anzahl an kulturellen Distinktionsangeboten und -möglichkeiten.

Die Spaltung der Mittelschicht

In den jüngeren Aufsätzen entfaltet Reckwitz neue Thesen oder verfeinert seine bisherigen Ideen. Zum einen widerspricht er der Ansicht, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen Kulturen komme. Viel wichtiger erscheint Reckwitz der Konflikt im Umgang mit der kulturellen Entwicklung der Singularisierung. Westliche Gesellschaften zerfallen seines Erachtens in politische Gruppen, die diese Entwicklung nutzen oder durch sie in Form der Selbstentfaltung gewinnen, und solche, die den Trend als Entwertung empfinden. Die Reaktion ist das Beharren auf kollektiven Identitäten. Beides sind Formen der „Kulturalisierung“ des Konflikts.

In dem Band wird auch herausgearbeitet, dass dieser Konflikt vor allem die Mittelschicht spaltet. Reckwitz spricht von „neuer“ und „alter“ Mittelschicht. Die alte Mittelklasse verkörperte „Mitte und Maß“, die Idee des normalen Lebens, mittleres Bildungsniveau, durchschnittliche Karrieren. Genau das gerät unter Druck. Reckwitz erkennt drei Szenarien: Das erste Szenario sieht die mögliche Auflösung der alten Mittelklasse zugunsten weiter auseinanderliegender Gruppen: Die alte Mittelschicht verliert, während die neue Mittelklasse, Hochqualifizierte der Wissensökonomie, an Gewicht gewinnt. Wer nicht mehr in der Mitte mithalten kann, rutscht in die neue prekäre Unterklasse ab. Das zweite Szenario sieht sowohl die neue als auch die alte Mittelklasse in einem Abwärtssog. In der globalen Konkurrenz und durch massive Arbeitsplatzverluste im Zuge der Digitalisierung kommt es zu einer sozialen „Angleichung nach unten“ (S. 132). Das dritte Szenario sieht ein Schrumpfen der Unterschicht, da ein Arbeitskräftemangel angesichts niedriger Geburtenraten die Preise auch für einfache Dienstleistungen ansteigen lässt und so der Anschluss an Bildung und Aufstieg ermöglicht wird.

Wie soll man politisch auf diese Polarisierung reagieren?

Schließlich stellt Reckwitz die Frage, wie man politisch auf diese Polarisierung reagieren könnte. Das Konzept des „einbettenden Liberalismus“ soll hier Hinweise geben. Neue ökonomische Regulierung und neue kulturelle Ordnungsbildung sind die beiden großen Bereiche einer solchen Politik. Dazu gehören die Sicherung der Grundversorgung mit Infrastruktur und die Suche nach Möglichkeiten einer kulturellen Integration, die stabile Grundregeln der Gesellschaft begünstigen. Schließlich spricht Reckwitz von einer Kultur der Reziprozität, der sozialen Gegenseitigkeit. Bürgerinnen und Bürger sollten in die Pflicht genommen werden für die Gesellschaft als Ganzes.

Die Zukunft wird weiter zeigen, wie im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft die körperliche und administrative Routinearbeit entwertet wird. „Der Westen“ wird eine Abwertung im Aufstieg anderer Teile der Welt erleben. Und die Potenzierung der ökologischen Probleme wird den Verlust der bestehenden Idee des unendlichen materiellen Wohlstandsgewinns bringen. „Generell müssen wir […] damit rechnen, dass die gesellschaftliche Entwicklung des 21. Jahrhunderts Verlusterfahrungen mit sich bringt (oder schon mit sich gebracht hat), die sich nicht ohne Weiteres kurieren lassen. Diese Verluste müssen benannt und verarbeitet werden, um nicht auf Dauer in der populistischen Spirale aus Empörung und Gekränktheit zu verharren.“ (S. 304)